Rockabilly: Laut, schnell, wild (guitar Workshop)
Tattoos, Hot Rods, Pin-ups und Pomade – all das gehört heute zum Rockabilly-Kult. Am Anfang aber war die Musik. Und ganz vorne mit dabei: Der kürzlich verstorbene Chuck Berry. Wir schauen uns Geschichte, Gear und Technik des Rockabilly und seiner Gitarristen in diesem Workshop an.

Anlässlich des Todes von Chuck Berry präsentieren wir euch unser großes Rock'n'Roll-Special inklusive den Tabs und Noten zu Chuck Berrys Song „Maybelline“.
Rettungskräfte fanden Berry am frühen Nachmittag des 18. März leblos in seinem Haus, wie die Polizei in St. Charles County im Bundesstaat Missouri auf Faceboook mitteilte. Chuck Berry wurde 90 Jahre alt.
„Chuck Berry war der größte Rock-Praktiker, Gitarrist und der größte, pure Rock-'n'-Roll-Schreiber, der je gelebt hat“, schrieb der Rocksänger Bruce Springsteen auf Twitter.
Seine legendären Riffs wie "Johnny B. Goode" oder "Roll over Beethoven" prägten die Musikgeschichte. Was er einst gemeinsam mit weiteren Wegbereitern etablierte, erweist sich bis heute als unverwüstlicher Jungbrunnen der Rockmusik – go, cat, go!
Hier kommt unsere Story zu 60 Jahren Rock'n'Roll-Geschichte!
Patti Pages Nummer-eins-Hit in den US-Billboard-Charts 1953 hieß „(How Much Is) That Doggie in the Window“. Ein albernes Stückchen Familienunterhaltung für die braven Suburbs der Eisenhower-Ära, das dem geneigten Betrachter, führt man es sich heute bei Youtube zu Gemüte, den grassie-renden Stumpfsinn und Mangel an mitreißen-den Momenten in der populären Musik jener Tage drastisch vor Augen führt. Kein Wunder also, dass es unter der Decke der prüden US-Nachkriegsgesellschaft gärte.
Veränderungen zogen am Horizont auf, und die Musik spielte dabei eine Vorreiterrolle. Besonders spürt man das zu Beginn der 1950er Jahre in den Metropolen des Südens, wo die Rassentrennung zwar noch immer so rigide wie eh und je gehandhabt wird, die kulturellen Grenzen, zumal die musikalischen zwischen Schwarz und Weiß, aber durch-lässiger geworden sind. Verantwortlich dafür ist das Radio. Längst gibt es kleine Stationen, deren Pro-gramm sich aus Hillbilly und Country & Western auf der einen Seite sowie Gospel und Rhythm’n’Blues auf der anderen speist.
Die Kids wollen aufregendere Musik als die der Eltern, Dinah Shore und Perry Como sind nett, aber langweilig. Elektrisierend dagegen sind die rauhe Energie und die Emotionalität der schwarzen Musik. Und deren wilder Beat. Die Eltern rümpfen die Nase, sprechen von Sünde und freuen sich auf die wöchentlichen Shows aus der „Grand Ole Opry“ oder vom „Louisiana Hayride“. Im Süden der USA wird die beste Musik der nach Hautfarbe getrennten Welten über den Äther frei Haus geliefert.
Schwarz-weiße Kollaborationen
Noch in den 1940er Jahren war der Big-Band-Swing die populärste Musik auf dem weißen Markt. Inzwischen hat Country & Western vor allem auf dem Land Marktanteile gewonnen. Ein Bastard aus beiden, der sogenannte Western-Swing, vertreten etwa durch den texanischen Fiddler Bob Willis, hat es zudem zu großer Popularität gebracht. Mag das schwarze und weiße Publikum bei Live-Veranstaltungen und Radio-Shows wie der WHBQ Saturday Night Jamboree in Memphis noch mit Hilfe eines quer durch den Raum gespannten Seils getrennt werden – backstage verkehren die Musiker ohne Vorurteile mit-einander. Gitarristen zeigen sich gegenseitig ihre Licks, Sänger schauen die Tricks der Kollegen ab, und in den Plattenstudios kommt es zu schwarz- weißen Kollaborationen.
Vor allem Elvis ist es, der bald schon eine regel-rechte Hysterie unter den jugendlichen weißen Zuhörern entfacht hat und dafür sorgt, dass sich diese neue Musik wie ein Flächenbrand in den Südstaaten verbreitet. Sie nannten es Rockabilly: die auf das nötigste reduzierte Instrumentierung, der auf-gedrehte Schluckaufgesang, gerne durchsetzt mit Falsett-Effekten und gebettet in reichlich Reverb; die charakteristische Spielweise der elektrischen Gitarre, die ihre markanten Bass-läufe mit kurzen Melodie-Licks kombiniert, und der wuchtig peitschende Slapbass, der einen Drummer im Grunde überflüssig macht. In kürzester Zeit nahmen nun Legionen von Musikern diesen simplen und vitalen Stil auf.
Die bekanntesten Sänger, die nach Elvis auf dem Feld des Rockabilly Aufsehen erregten, waren Gene Vincent („Be-Bop-A-Lula“) mit seinem grandiosen Gitarristen Cliff Gallup und Carl Perkins, dessen „Blue Suede Shoes“ zum Genre-Klassiker wurde, Eddie Cochran („Summertime Blues“), Buddy Holly („Peggy Sue“), Larry Williams („Short Fat Fanny“) und nicht zuletzt der heute fast vergessene Johnny Burnette, der 1964 mit einem Fischerboot tödlich verunglückte und dessen Fifties-Hits – „The Train Kept A-Rollin’“, „Rockabilly Boogie“, „You’re Sixteen“ – in den 1960ern zuhauf von britischen Youngsters nachgespielt wurden. Andere wie Charlie Feathers, Wanda Jackson, Johnny Carroll oder Billy Lee Riley, der es 1957 mit dem denkwürdigen Titel „Flyin’ Saucers Rock’n’Roll“ versuchte, konnten zumindest kurzfristig für Aufmerksamkeit sorgen. Kurze Blütezeit Weitere Stars des frühen Rock’n’Roll wie Chuck Berry, Jerry Lee Lewis und Little Richard siedelten ihre Musik näher am klas-sischen Rhythm’n’Blues an, instrumentierten ihn unterschiedlich, verwendeten Klavier und Bläsersätze und legten das Gewicht stärker auf Boogie-Elemente.
Den gesamten Artikel inklusive weiterer Noten-Beispiele und CD könnt ihr euch hier nachbestellen.Der reine Rockabilly mit seinem deutlichen Country-Stempel ging nach kurzer Blütezeit im allgemeinen Rock’n’Roll-Fieber auf. Er galt ohnehin als etwas provinziell, weshalb er sich außerhalb der Südstaaten nie so recht durchsetzte. Viele seiner Galionsfiguren ver-legten sich folglich bald wieder auf die Countrymusik, von der sie einst gekommen waren. (Der junge Johnny Cash war erfolgreich den umgekehrten Weg gegangen, indem er seine Countryballaden mit dem Twang des Rockabilly anreicherte.)
Gegen Ende der 1950er Jahre war Rockabilly von der Bildfläche verschwunden. Aber er rumorte im Verborgenen weiter. Etwa in Großbritannien, wo die jungen Bilderstürmer der frühen Beat-Tage ihn quasi mit der Muttermilch bekommen hatten – Musiker wie Gene Vincent, Jerry Lee Lewis und Eddie Cochran hatten mit ihren Englandtourneen in den frühen 1960ern dafür gesorgt. Klassische Rockabilly-Songs tauchten denn auch im Repertoire einer jeden Sixties-Band auf, die etwas auf sich hielt. Offiziell eingeläutet wurde das erste echte Revival 1969, als John Lennon mit seiner Plastic Ono Band das „Toronto Rock’n’Roll Festival“ beehrte.
In den 1970ern dann zimmerten Bands wie die Rubettes, Mud, Showaddywaddy und andere ihre Karrieren aus dem Baukasten des frühen Rock’n’Roll – inklusive entsprechender Rückgriffe auf die Mode jener Epoche, also Pomadenfrisuren und Pettycoats.
Schnell, laut und wild
War dieses erste Fifties-Revival noch ein eher Marketing-gesteuertes, das sich aus dem Nos-talgiebedürfnis eines erwachsen gewordenen Publikums ergab und nur die alten Klischees wiederkäute, so fand Rockabilly mit dem Aufkommen des Punk auch wieder Kontakt zur aktuellen Jugendkultur. Bands wie The Clash griffen nicht nur auf die Musik zurück, sie entdeckten auch das rebellische Potenzial der Bewegung wieder, das in den 1950er Jahren prägenden Einfluss auf die Teenage-Rebellion ausgeübt hatte – Rockabilly schien ein geistesverwandter Onkel des Punk.
Prompt entstanden mit Punkabilly und Psychobilly neue, in der Lebenswirklichkeit des Thatcher-Englands gehärtete Varianten des alten Stils. Parallel dazu übernahmen amerikanische Musi-ker wie die Cramps und Mojo Nixon das Erbe und machten es zu einer der tragenden Säulen des Indie-Rock.
In den 1980er Jahre erschien mit den Stray Cats eine Band auf der Bildfläche, die charis-matisch und versiert genug war, den Rocka-billy nachhaltig zu modernisieren und ihn erstmals seit den Pionierjahren aus dem Underground zurück in den Mainstream zu holen. Vor allem die atemberaubende Virtu-osität ihres Gitarristen Brian Setzer (Interview Seite 44) im Verein mit der zeitgemäßen Produktion ihrer Alben und eigenständigen Songs wie dem „Stray Cat Strut“ war dafür verantwortlich, dass sich die Cats als Weltstars etablierten und bis heute als Überväter des Neo-Rockabilly gelten.
Mit Shakin’ Stevens eroberte ein weiterer Untertan Ihrer Majestät mit – allerdings stark geglättetem – Rock’n’Roll die Hitparaden. Und selbst in Westdeutschland entfachte eine Band wie die Ace Cats im Windschatten der NDW ein kurzlebiges Revival. Immer mal wieder ist Rockabilly für eine kommerzielle Überraschung gut, wie Sascha alias Dick Brave im Jahr 2003 und zuletzt das Berliner Retro-Trio The Baseballs bewiesen.
Rückgrat und Lebenselixier
Derweil verbeugten sich die Veteranen der ersten britischen Rockgeneration vor ihren Vätern. Cliff-Gallup-Fan Jeff Beck tat sich 1993 mit den hoch angesehenen Big Town Playboys zusammen. Led-Zeppelin-Frontmann Robert Plant scharte 1984 Musiker wie Jimmy Page und wiederum Jeff Beck um sich, um mit seinem Side-Project The Honeydrip-pers Chartserfolge einzufahren. Nicht zu vergessen der Kanadier Neil Young, der 1983 das umstrittene Rockabilly-Tribute Everybody’s Rockin’ herausbrachte.
Heute lebt Rockabilly vor allem als Underground-Kult in Europa weiter, mit eigenen Festivals, einer weitläufig bis in die USA vernetzten Szene inklusive Hot-Rod-Clubs, Tattoo-Studios, Bettie-Page-Pin-ups und eigener Mode-Ästhetik. Als eigenständiger Stil ist er im Mainstream zwar kaum noch präsent und allenfalls in Spurenelementen in der Musik von Bands wie The White Stripes, Kings of Leon oder Black Keys nachzuweisen. Dennoch blieb der rauhe Beat des Rockabilly bis heute Rückgrat und Lebenselixier des Kults.
Seine elementare Formel „Laut, schnell und wild“ ist seit sechzig Jahren für den weißen Rock gültig und hat ihm immer dann, wenn er mal wieder schlaff zu werden drohte, frisches Feuer unter den Hintern gelegt. Fuck that doggie in the window!
Text: Ernst Hofacker
Fotos: Getty Images
Der Artikel erschien erstmalig in der guitar-Ausgabe 08/2014. Verpasst? Hier könnt ihr euch das Heft bequem online nachbestellen.